Im Urlaub hat man ja bekanntlich endlich Zeit für die Dinge, zu denen man sonst nicht zu kommen pflegt: Sonnenbaden, Federballspielen, Kinder durch die Luft werfen und sich hinsetzen, um ein paar Überlegungen zur kommenden Gemeinderatswahl in den Laptop zu tippen. Diese Überlegungen sind ganz allgemeiner Natur und geben ausschließlich meine Privatmeinung wider; wer andere Ansichten vertritt, sei hiermit aufgefordert, diese ebenfalls auf www.hilgermissen.euzu veröffentlichen – die Website ist neutral und bietet allen Interessenten Gelegenheit, ihre Sicht der Dinge zu verbreiten.
Wohin soll‘s gehen?
Als meine Frau und ich uns vor einigen Jahren entschlossen, mit den Kindern die Großstadt zu verlassen und uns irgendwo auf dem Land niederzulassen, standen – da ich ortsunabhängig über das Internet arbeite – verschiedene Optionen zur Auswahl: Ich bin in Magelsen aufgewachsen, und meine Eltern lebten damals beide noch, allerdings würden für unsere alte Hofstelle umfangreiche Umbauarbeiten nötig sein, um Platz für zwei Haushalte zu schaffen, und der nächste Weg nach Berlin, wo alte Freunde und Verwandte wohnen, ist es auch nicht gerade. Warum also nicht einen alten Bauernhof in Brandenburg kaufen? Im Oderbruch schmissen sie einem damals halbwegs gut erhaltene Hofstellen mit diversen Nebengebäuden für schlappe 50.000 Euro hinterher, die Landschaft ähnelt ganz der hiesigen, und wenn man Sehnsucht nach dem Kreuzberger Kanalufer hat, ist man in einer Stunde in der Stadt.
Trotzdem sind wir nach Niedersachsen gekommen. Das hatte einerseits sentimentale Gründe (ein gewisses Heimweh will ich nicht abstreiten), andererseits ganz pragmatische: Von Freunden, die den Schritt ins Oderbruch gewagt hatten, wussten wir, dass dort Schulwege von über 20 Kilometern keine Seltenheit sind, ein örtliches Kulturleben hingegen durch Abwesenheit glänzt und der gemeine Brandenburger dem zugereisten Wessi immer noch mit Misstrauen, Missgunst und Heimtücke gegenübertritt – vom Ignorieren auf dem Dorffest über die Anzeige beim Bauamt bis hin zum nächtlichen Diebstahl der Haustiere. Für die Kinder hingegen musste man fürchten, dass sie mangels anderer junger Familien ohne Freunde aufwachsen und in Kindergarten oder Grundschule an einen der alten Drachen geraten würden, die früher die vollendet ausgebildete sozialistische Persönlichkeit heranreifen ließen. Junge, gebildete Leute – wen wundert‘s? – verlassen die Einöde fluchtartig nach Erlangen von Berufsabschluss oder Abitur, und spätestens, wenn man begreift, dass die örtliche Abendunterhaltung in der Regel daraus besteht, den Skinheads beim Komasaufen an der nächsten Tankstelle zuzusehen, lässt man alle Einwanderungspläne fallen.
Nun gut, ich übertreibe vielleicht ein wenig... Aber man kann ja sagen, was man will: Die Gemeinde Hilgermissen hat im Gegensatz dazu einen tollen Kindergarten, eine engagierte Grundschule (an der von der Holzhammerpädagogik von anno dunnemals nun wirklich gar nichts mehr zu spüren ist), die Mehrzahl der Bewohner ist freundlich und weltoffen, es gibt immer noch junge Familien mit Kindern, und wenn man auf Kreuzberg verzichten kann, ist auch der Weg nach Bremen nicht weit. Wenn ich auf irgendein Dorffest gehe, kann ich mit Leuten ein Bierchen trinken, deren Urgroßeltern schon mit meinen Urgroßeltern dasselbe getan haben. Das Ärzteangebot im nahen Verden ist ausreichend, und wenn ich Kulturleben will, muss ich nur aus der Gartentür herausfallen und über die Straße zum Adelheidshof hinüber. Die mangelnde Internetanbindung war anfangs ein Problem, aber dank der DSL-Initiative von 2006 komme ich einigermaßen zurecht, wenn ich auch weiß, dass andere wegen größerer Entfernung zum Knotenpunkt in dieser Hinsicht nicht so viel Glück haben, darunter leider auch die Schule. Da ich beruflich nicht aufs Handy angewiesen bin, stört mich sogar die mangelnde Netzabdeckung für Mobilfunk nicht sonderlich. Und meine Haustiere klaut auch keiner.
Also alles paletti?
Die mittel- und langfristigen Aussichten sind leider nicht so rosig. Wie wir aus den Daten der nimmermüden Statistiker wissen, setzt sich überall in Deutschland die Landflucht fort. Die jungen, gebildeten Leute verlassen nicht nur in Brandenburg das sinkende Schiff, abgelegene Dörfer suchen händeringend nach Ersatz für ihre pensionierten Landärzte, und das Höfesterben geht unaufhaltsam weiter, wobei wir gleich bei einem unserer besonders dringlichen Probleme wären. Da inzwischen selbst eine alte Vollmeierstelle kaum noch ein ausreichendes Familieneinkommen gewährleistet, werden auch bei uns in den nächsten Jahren wieder einige landwirtschaftliche Betriebe mit Erreichen des Rentenalters der jetzigen Betreiber das Ende ihrer vielhundertjährigen Geschichte erleben. Das kann, das muss man bedauern, aber ändern kann man es in einem Industriestaat nicht – ebenso gut könnte man sich ans Meer stellen und der Flut befehlen stehenzubleiben. Aber kann man nicht wenigstens sein Möglichstes versuchen, die alten Mauern mit neuem, interessantem, wirtschaftlich gesundem Leben zu füllen...?
Die Frage, wen man als Käufer oder Mieter der leer stehenden Höfe anlocken möchte, sollte man besser nicht dem Zufall überlassen. Entscheidet allein der Immobilienmarkt, wird ein Resthof wegen der hohen Renovierungskosten möglicherweise gar nicht erst verlauft und verfällt, oder er findet am Ende dann zum Schleuderpreis doch noch einen Abnehmer – aus wenig erwünschten Kreisen. Vielleicht wird ein Schrotthandel draus, vielleicht ein Clubheim für Leute mit dicken Bäuchen auf großen Motorrädern, vielleicht das x-te Heim für schwer erziehbare Jugendliche. Das kann eigentlich niemand wollen.
Aber auch, wer Wohnraum vermietet, kann sich nicht beruhigt zurücklehnen und in seinen Kontoauszügen blättern: Bis jetzt konnten wir ja ganz gut davon profitieren, dass Bremen nicht weit ist und viele Pendler sich jeden Tag auf den Weg in die Hansestadt machen. In den 1990ern brach ein richtiger Boom aus, der billiges Bauland in den Dörfern mit Einfamilienhäusern gefüllt und einen Immobilienmarkt für kleinere Resthöfe geschaffen hat, aber in den letzten Jahren sieht man immer mehr ungenutzte Baugrundstücke und leerstehende Höfe und Häuser, die wie Sauerbier angeboten werden, aber ziemlich lange auf einen Käufer warten. Der Grund dafür liegt natürlich hauptsächlich in den steigenden Ölpreisen, die weite Wege mit dem Pkw und einen Resthof mit Ölheizung immer unattraktiver erscheinen lassen. Was eine Zeitlang ein Standortvorteil des Hoyaer Lands war – die Lage ungefähr gleich weit von Bremen und Hannover entfernt – kann schnell wieder zu einem enormen Nachteil werden, wenn nicht die Weichen in die richtige Richtung gestellt werden.
Welche aber wäre das? Das billige Öl – die Spatzen pfeifen‘s inzwischen von den Dächern – wird nicht wiederkommen, und ein Lebens- und Wirtschaftsmodell, das auf tägliche Arbeits- und Einkaufswege von 100 Kilometern oder mehr setzt, wird immer unrealistischer. Das Elektroauto mag eine entfernte Möglichkeit bieten, aber noch sind wir nicht so weit, und manche meinen, dass wir auch in den nächsten Jahrzehnten nicht so weit kommen werden. Wie können wir trotzdem Wirtschaftskraft in der Region halten, neue Arbeitsplätze schaffen und ein Umfeld schaffen, in dem sich auch ein vom Großstadtleben verwöhnter Mediziner als Landarzt niederlassen möchte? Wie können wir junge Leute mit Kindern in der Region halten, damit nicht irgendwann selbst die Grundschüler nach Hoya müssen? Wie können wir verhindern, dass irgendwann die letzten Trecker einsam ihre Bahn durch eine Landschaft ziehen, die von Hofruinen, Großviehställen und Altenheimen geprägt ist?
Die Antwort kann nur lauten: durch kompromisslosen Ausbau der Internet- und Mobilfunkanbindung, ein griffiges Werbekonzept für die Vermarktung des Immobilienbestands und ein attraktives Landschaftspflege- und Naherholungskonzept.
Internet- und Mobilfunkanbindung
Dies ist der wichtigste Bestandteil der Strategie. Das Internet hat viele Infrastruktur-Einrichtungen mitten in den Privathaushalt gebracht, für die man früher mehr oder weniger lange Wege in die Stadt auf sich nehmen musste – von gut sortierten Bibliotheken, Zeitschriftenläden und Fachhandelsgeschäften über Tauschbörsen, Flohmärkte und Vereinstreffen Gleichgesinnter bis hin zum Filmverleih. Letzterer allerdings beispielsweise nur, wenn man über ausreichend schnelle Verbindungen verfügt, und daran hapert es trotz DSL in der Gemeinde Hilgermissen weiterhin. Die Entwicklung verläuft rasend schnell, und wenn man Leute aufs Land locken will, muss man ihnen auch hier einen Standard bieten, der anderswo längst zum Alltag gehört: Radio und TV über Internet, Filme über Internet, Austausch privater Bild- und Audioaufnahmen mit hohen Datengrößen über Internet usw., nicht zuletzt auch eine optimale Vernetzung der Bildungseinrichtungen. Und das alles bitte auch über Smartphone, damit auch der letzte Radtourist in Hingste seine Touren-App auf dem iPhone öffnen kann, um den kürzesten Weg nach Verden zu finden...!
Die Zukunftsmöglichkeiten des Internets sind weiterhin gigantisch: Der steigende Kostendruck zwingt viele Firmen dazu, ihre traditionellen Arbeitsmodelle zu überdenken und vermehrt auf Telearbeit zu setzen – und für manche Leute ist kaum etwas attraktiver als ein Arbeitsplatz mit Blick auf dörfliche Idylle, bei dem man trotzdem nicht aus der modernen, weltweiten Arbeitswelt ausgeschlossen ist. Ich persönlich arbeite seit mehr als 10 Jahren nach diesem Modell, und ich könnte mir vorstellen, dass irgendwann letztlich jeder Büroarbeitsplatz ohne Kundenkontakt diesem Weg folgen wird; die freien Berufe sind ohnehin schon davon betroffen. Aber um von dieser Entwicklung profitieren zu können, ist öffentliche Unterstützung nötig, um den Telekommunikationsanbietern den Weg in die Region zu erleichtern.
Vermarktung des Leerstands
Als Ersatz für das typische Einfamilienhaus ist so ein niedersächsisches Hallenhaus mit Scheune, Kuhstall und Wagenschauer sicher ein wenig groß geraten, aber vielleicht gibt es die eine oder andere Künstlergemeinschaft, die nach großen, ruhigen Räumen für ihre Arbeit sucht? Oder eine Gruppe junger Leute, die auf ein paar Hektar neue Ideen jenseits der industriellen Landwirtschaft ausprobieren möchten? Oder einen IT-Betrieb, der in ländlicher Idylle seine Technologie entwickeln will? Oder einen Seminaranbieter, der vom Trend zum lebenslangen Lernen profitieren möchte und Räume sucht, die ausreichend Ruhe dafür bieten? Oder jemanden wie die Cloudsters, die temporäre Arbeitsplätze für die wachsende Zahl der mobilen Internet-Freiberufler zur Verfügung stellen? Ideen gäbe es genug, aber es muss auch eine Kommunalverwaltung geben, die sich in dieser Hinsicht auf die Hinterbeine stellt, schließlich sind wir nicht die einzige Gemeinde in Deutschland mit derartigen Problemen.
Ein umfassendes Konzept ist nötig, das im Verbund mit den anderen Strategien das erwünschte Publikum anspricht. Ein ganz banales Beispiel: Viele Leute würden gerne aufs Land ziehen und auf einem alten Bauernhof Pferde (und andere Tiere) halten, was aber nicht ganz einfach ist, weil durch das Verschwinden der traditionellen Mischwirtschaft in den letzten Jahrzehnten viel Grünland in Acker umgebrochen wurde und nicht mehr für die Weidepacht zur Verfügung steht. Hier könnte die Gemeinde im Zusammenhang mit der Anlage von Ausgleichsflächen ordnend eingreifen.
Landschaftspflege und Naherholung
Wir haben es natürlich durchaus schön hier. Selbst im Winter ist immer irgendwo grün, die roten Ziegelmauern passen ganz vortrefflich zur Farbe der Landschaft, und auch die endlos flache Weite des alten Urstromtals hat ihre ganz eigenen Reize. Aber dann die vielen Strommasten! Und die Windräder! Und die riesigen Schläge, von keinen Hecken oder Bäumen gegliedert! Der Mangel an Wald! Mal ganz ehrlich – es gibt schon auch Landschaften, die noch ein bisschen schöner sind als das alte Gohgericht Wittmersloh (so hieß unsere Gegend im Mittelalter, hätte man bei der Namensgebung seinerzeit ja auch mal berücksichtigen können...) und in denen sich die oben genannten IT-Firmen und Internet-Freiberufler vielleicht noch ein bisschen lieber niederlassen würden.
Einfach so hinnehmen müssen wir das allerdings nicht: Durch Ausgleichsmaßnahmen, gemeindeeigene Flächen (z. B. der nicht mehr genutzte Sportplatz in Magelsen), innovative Ideen wie etwa die Anlage von neuen Fußwegen in den Dörfern und vor allem die Ränder der öffentlichen Wege stehen der Gemeinde Hilgermissen viele Möglichkeiten zur Verfügung, durch Neuanpflanzungen und Raumordnung zu einem harmonischen Siedlungs- und Landschaftsbild zu gelangen, das positiv auf Besucher und Einwohner wirkt und Lust macht, sich hier niederzulassen. Dadurch könnte man auch seinen Teil zur Befriedigung des wachsenden Bedarfs an nachwachsenden Rohstoffen leisten, aber es versteht sich wohl von selbst, dass etwa der anfallende Baumschnitt in der Gemeinde verbleibt und nicht nach außen vergeben wird.
Und warum macht eigentlich niemand was aus der Weser? Das Glück der Oderbruchler, die nach der großen Flut von 1997 einen neuen Deich spendiert bekamen und die schlaue Idee hatten, den Oderradweg gleich auf die Deichkrone zu verlegen, werden wir nicht haben (insofern eine Überschwemmung als „Glück“ zu bezeichnen ist...), aber warum wird beispielsweise die Ecke am Wienberger Schöpfwerk nicht zu Naherholungszwecken verwendet? Die Lohofschleife wird seit Jahrzehnten nicht mehr von Frachtschiffen befahren, hier liegt allerhand nicht genutztes Potenzial brach.
Als letzter (aber absolut nicht unwichtigster) Bestandteil dieser Strategie sei noch der Bereich Kunst und Kultur genannt. Natürlich weiß jeder Städter, der aufs Land zieht, dass er dort nicht die Berliner Staatsoper erwarten kann, aber eine lebendige Kleinkunstszene aus einheimischen Künstlern, Kunsthandwerkern, Musikern und Theatergruppen mit den entsprechenden Veranstaltungsorten sollte es dann doch schon sein – wer wissen will, wie das funktioniert, kann sich bei Erwing Rau in Hollen informieren. Ein dreifach Hoch! an dieser Stelle übrigens auf Friederike Stegemann vom Magelser Adelheidshof, die aus eigener Initiative einen ersten Keim in diese fruchtbare Erde gesteckt hat. Möge er – mit ausreichender öffentlicher Unterstützung – wachsen und blühen! Dass ein gerüttelt Maß an Kulturleben kein Freizeitvergnügen überkandidelter Spinner ist, sondern ein knallharter Standortfaktor, hat man bei der neuen Samtgemeindeverwaltung in Hoya längst begriffen. Es wäre dem neuen Gemeinderat von Hilgermissen zu wünschen, das man sich auch dort diesen (und anderen) Einsichten nicht weiter verschließt.