Wann sind unsere Dörfer eigentlich gegründet worden? Die erste urkundliche Erwähnung bedeutet ja nicht, dass gleichzeitig der jeweilige Ort ins Leben gerufen worden wäre – mangels schriftlicher Überlieferung wissen wir wenig Genaues über die Zeit, die den Sachsenkriegen Karls des Großen voranging, in deren Folge Nordwestdeutschland in das fränkische Reich integriert wurde. Die einzige Möglichkeit, die Frage mit letzter Sicherheit zu beantworten, würde darin bestehen, einen Trupp Archäologen einfliegen zu lassen und sämtliche alten Dorfkerne ein paar Meter tief durchwühlen zu lassen. Ein eher unrealistisches Szenario.

Leider ist auch die unmittelbare Umgebung der Siedlungen meist nicht allzu fundträchtig, da zumindest in der Überschwemmungszone der Weser (wir hier sagen: „Marsch“; der Geologe sagt: „Talaue“) in den letzten zweieinhalb Jahrtausenden ein bis zwei Meter fetter, fruchtbarer Auenlehm abgelagert wurde, unter dem sich die größten Geheimnisse verbergen könnten – man wüsste einfach nicht, wo man anfangen sollte zu suchen. Was man mitunter finden könnte, zeigte sich beispielsweise 1908 in Hoya, als in der Ziegeleigrube südlich der Stadt unter einer meterdicken Schicht Ton vier Holzbrunnen, römische Münzen, Überreste von Eisenöfen und Keramikscherben zum Vorschein kamen, alles aus der Völkerwanderungszeit. Diese recht bedeutenden Fundstücke wurden nach Hannover ins Landesmuseum überführt, wo sie allerdings die Bombenangriffe des II. Weltkriegs nicht überstanden.

Was der Blütenstaub verrät

In den früher in der Gemeinde Hilgermissen vorhandenen Kies- oder Tongruben war man leider nicht so erfolgreich, wir können also nur einige allgemeine Überlegungen anstellen, um uns einer Antwort auf die eingangs erwähnte Frage zu nähern. Glücklicherweise hat man in den 1980er Jahren einige sogenannte Pollenanalysen von verlandeten Seen und Altarmen die Mittelweser entlang von Liebenau bis zur Allermündung gemacht, 1993 dann sogar eine sehr eingehende Studie in der Talaue bei Stolzenau. Bei diesen Untersuchungen werden Bohrproben aus nicht durch Strömung gestörten Seeböden oder Mooren entnommen. In beiden Fällen lagert sich – vereinfacht gesprochen – jedes Jahr eine neue, mehr oder weniger deutlich im Bohrkern zu erkennende Schicht von Pflanzenresten, Staub und vom Wind an den jeweiligen Standort getragenen Blütenpollen ab. Diese Schichten kann man von der obersten zurückgehend abzählen und dadurch zeitlich zuordnen. Schließlich untersucht man eine Probe aus jeder einzelnen Schicht im Mikroskop und ordnet die darin gefundenen Blütenpollen den Ursprungspflanzen zu. Wenn man dann die Pollenkörner der jeweils erkannten Pflanzenarten zählt, kann man Schichtenfolge und Häufigkeit miteinander in Beziehung setzen und die Vegetationsentwicklung über größere Zeiträume hinweg betrachten, manchmal mehrere Jahrtausende.

Bei den genannten Untersuchungen ergab sich für die Mittelweser insgesamt folgendes Bild: Nach dem Ende der Eiszeit bildete sich in der (damals noch sandigen) Talaue zunächst ein Kiefern- und Birkenwald heraus, mit zunehmend warmem Klima schließlich ein von zahllosen Erlenbrüchen durchsetzter Eichen-Ulmen-Mischwald mit einzelnen Linden, Eschen und Haselnusssträuchern, außerdem – in unmittelbarer Wassernähe – Weidengebüschen und Flutrasenstücken. Den Auenlehm gab es damals noch nicht (siehe Naturraum), dafür aber sicher jede Menge Altarme und Kolke voller Fische und Wasservögel, im Überfluss Blatt- und Grasnahrung für Auerochsen, Elche und Hirsche sowie allerlei für den menschlichen Verzehr geeignete Beeren und Nüsse. Es wäre schon ein extrem großer Zufall, wenn dieses Nahrungsangebot nicht in der Mittelsteinzeit (in Norddeutschland geht diese Epoche von ca. 10.000 bis 4500 v. Chr.) in irgendeiner Form die hiesigen Jäger und Sammler in die Nähe der Weser gelockt hätte, wenigstens saisonal während flutfreier Zeiten. Die entsprechenden archäologischen Hinterlassenschaften wurden in Form von Arbeitsgeräten aus Geweihstücken und sogenannten Geröllkeulen hauptsächlich auf den umliegenden höheren Geestflächen gefunden, allerdings kam eine entsprechende Geweihkeule auch in einer Kiesgrube in Landesbergen zum Vorschein, die Nutzung der Talaue durch Menschen ist also belegt.

Die ersten Bauern

Landwirtschaft wird in Norddeutschland seit etwa 4500 v. Chr. betrieben, diese Epoche wird als Jungsteinzeit bezeichnet. Große Auswirkungen auf die Pollendiagramme des Wesertals hatte dies aber zunächst nicht. Einzelne sogenannte „Siedlungsanzeiger“ wie Beifuß, Gänsefuß, Ampfer, Kornblume, Spitzwegerich und Getreide können im geringen Ausmaß nachgewiesen werden, aber im Großen und Ganzen beschränkte sich die Nutzung der Talaue wohl darauf, dass die am hochwasserfreien Talrand siedelnden Bauern ihre Rinder und Schweine zu Waldweide und Eichelmast in den Auenwald trieben. Dieses Bild ändert sich auch in der anschließenden Bronzezeit (ca. 2000 bis 500 v. Chr.) nicht sonderlich, als entsprechende archäologische Funde vom Talrand kann man etwa ein in Eystrup gefundenes Steinbeil, die im früheren Museum des Kreises Grafschaft Hoya in Syke ausgestellte jungsteinzeitliche Tontrommel von Hassel und die ebendort sowie in Schweringen gefundenen Schwerter, Lanzen und Graburnen anführen. Im selben Zeitraum wandern auch erstmals Hainbuchen und Buchen in den Mittelweserraum ein, außerdem legen die Pollen von Heidekräutern nahe, dass Teile des landwirtschaftlich genutzten sandigen Geestbodens außerhalb der Talaue bereits erste starke Erschöpfungen zeigten und zu Heide geworden waren. Für die Bronzezeit lässt sich auch eine stärkere Nutzung des Waldes feststellen, da jetzt häufiger Pollen von Wiesenpflanzen auftreten, die auf gerodeten Flächen gewachsen sein müssen.

Großflächig gerodet und teilweise besiedelt wurde die Talaue aber offenbar erst während der nachfolgenden Eisenzeit, also in den Jahrhunderten vor Christi Geburt. Die Kurve der Siedlungsanzeigerpflanzen steigt für diesen Zeitraum stark an, am Geestrand wurde viel Getreide angebaut, und die Talaue verlor teilweise ihre Walddecke, wurde also offenbar stark durch die Viehhaltung beansprucht. Dies ist die Zeit der sogenannten „Nienburger Kultur“, während derer die Täler von Leine und Weser offenbar eine Art vorgeschichtliche Autobahn für den Nord-Süd-Handel darstellten, denn überall finden sich aus dieser Zeit keltische Importstücke, die aus dem heutigen Süddeutschland hierher gelangt sein müssen, beispielsweise als Graburnen verwendete Bronzeeimer (in Verden und Leese), Schmuck (in Wölpe), Pferdegeschirr (in Leeseringen), Schwerter (Dreye) oder ein Goldring irischen Ursprungs (Blender). Ebenfalls im Leeser Urnenfriedhof kam ein tönernes Schiffsmodell ans Tageslicht, dass einen entsprechenden Wasserverkehr auf der Weser nahelegt, und in Petershagen hat man sogar eine Gruppe von Gräbern entdeckt, in denen offenbar die Gattinnen aus dem Rheinland zugewanderter Händler lagen. Was als Gegenleistung für die Importware nach Süden geliefert wurde, entzieht sich unserer Kenntnis, aber zu den üblichen Verdächtigen zählen dänischer bzw. baltischer Bernstein, Pelze, Wachs oder Sklaven. Die Nienburger Kultur zeichnet sich durch die „Nienburger Tasse“ aus, eine Art Tongefäß, das mit keltisch anmutenden Mustern verziert ist, also übernahm man wohl auch in dieser Hinsicht Kultureinflüsse aus dem Süden.

In Wellie südlich von Nienburg hat man in einer Tongrube die Überreste von Häusern entdeckt, die in dieser Zeit erbaut wurden. Das wäre der erste Nachweis einer Siedlungstätigkeit in der Talaue, aber es lässt sich nicht entscheiden, ob es sich hierbei wirklich schon um ein Bauerndorf oder nur um einen zeitweilig besiedelten Händlerstützpunkt gehandelt hat. Ohnehin ist die erste Verwendung von Dünger in der Landwirtschaft in unseren Breitengraden erst für die Zeit um oder kurz nach Christi Geburt nachgewiesen (für Flögeln bei Cuxhaven), die Voraussetzungen für eine dauerhafte Sesshaftigkeit waren also gar nicht gegeben: Wenn man die Fruchtbarkeit des Bodens nicht durch Zugabe von wenigstens Mist oder Kompost aufrecht erhält, wird er durch jede Art von Ackerbau im Verlauf weniger Jahrzehnte ausgelaugt, was frühere Kulturen dazu zwang, immer wieder ihre alten Dörfer zu verlassen und anderswo ein neues Stück Wald zu roden. Das gilt zwar nicht unbedingt für Felder in Flussnähe, wo durch die jährlichen Überschwemmungen in der Talaue jedes Jahr neue Nährstoffe herangeführt werden, aber unsere prähistorischen Vorfahren waren für ihre Nahrungsmittelversorgung in erster Linie auf den Getreideanbau angewiesen, und der lässt sich in der Überschwemmungszone anhand der Pollendiagramme erst für das beginnende Mittelalter (um 800) nachweisen.

Die Friesen-Connection

Ohnehin schließt sich in den Jahrhunderten nach Christi Geburt und insbesondere zur Zeit der Völkerwanderung die Walddecke wieder und die Zahl der Siedlungsanzeigerpflanzen geht zurück. In diesen Jahrhunderten wurde es in Norddeutschland Mode, Raubzüge in das römische Reich zu unternehmen oder – nach dessen Untergang – nach Nordafrika (Wandalen), Italien (Langobarden) oder England (Angelsachsen) auszuwandern. Insbesondere letztere Wanderungsbewegung, die den Quellen zufolge in das 5. Jahrhundert fällt, lässt sich auch gut archäologisch fassen, etwa bei der eisenzeitlichen Siedlung von Feddersen Wierde an der Unterweser, die um 450 herum verlassen wurde. Konsequenterweise sank dadurch die Bevölkerungsdichte, und eine beginnende Wiederbesiedlung lässt sich aus den Pollendiagrammen erst für die Zeit um 600 nachweisen.

Dies ist nun von Interesse für die hiesige Siedlungsgeschichte, denn die erste dauerhafte Siedlung in der heutigen Gemeinde Hilgermissen lässt sich bereits für das Jahr 860 urkundlich nachweisen: In der Lebensbeschreibung des heiligen Willehad, eines angelsächsischen Missionars, der unter Karl dem Großen zum ersten Bischof von Bremen wurde, wird eine Frau aus dem – später untergegangenen – Dorf Eggrikeshusen in der Nähe Magelsens erwähnt, die am Grab des heiligen Mannes in Bremen von ihrer Lähmung geheilt worden sei. Die überlieferte Namensform lässt noch den Personennamen Eggerik erkennen, der offenbar dem Ortsgründer gehörte. Das würde zeitlich gut zu einer Gründung in der oben erwähnten Wiederbesiedlungsphase passen, zudem war dieser Name (übrigens ebenso wie bei „Ubbo“, dem Gründer Ubbendorfs) seinerzeit vor allem bei den Friesen verbreitet, und die wiederum haben sich genau um 600 herum aus ihren Ursprungsgebieten zwischen Schelde- und Emsmündung ostwärts bis an die Weser ausgebreitet.

Es ließe sich vermuten, dass die Fähigkeit diese Stammes, mit Meeres- und Flussüberschwemmungen fertig zu werden, nicht nur am Meer, sondern auch an der unteren Mittelweser gefragt war, denn der Bau der ersten niedrigen Sommerdeiche im Aller-Weser-Dreieck fällt ebenfalls in diese Zeit (jedenfalls nach Karl Löbe: Das Weserbuch, eine unabhängige wissenschaftliche Bestätigung habe ich leider noch nicht gefunden). Da sich bei uns keine Überreste der friesischen Sprache nachweisen lassen (es sei denn, die Tatsache, dass man im hiesigen Platt für „heute“ nicht „hüüt“, sondern wie im Friesischen und Holländischen „vandaage“ sagt, würde in diese Richtung deuten), kann es sich aber nur um einen zahlenmäßig eher kleinen Beitrag im Rahmen einer allgemeinen Zuwanderung bzw. eines entsprechenden Bevölkerungswachstums gehandelt haben.

Alverik, Ekki und Magel tauchen auf

Für eine weitere zeitliche Eingrenzung der Ortsgründungen müssen wir etwas um die Ecke denken: Als einige Bewohner Nordwestdeutschlands und Jütlands sich im 5. Jahrhundert nach England aufmachten, um dort als Angelsachsen bekannt zu werden, gründeten sie Ortschaften mit Endungen wie -bury, -ham, -hope oder -stead (was bei uns -burg, -heim/-hem, -hoop oder -stadt entspricht), aber es gibt keinen englischen Ort mit einer -husen vergleichbaren Endung, und -thorpe (entspricht -dorf) findet sich nur im „Danelaw“, dem Siedlungsgebiet der dänischen Wikinger, die sich im 9. Jahrhundert im Osten Englands breitmachten. Wenn ein Ort auf dem Kontinent diese Endungen hat, ist er also mit Sicherheit nach dem 5. Jahrhundert gegründet worden, was in unserem Fall für Dahlhausen, Eitzendorf oder Ubbendorf gilt und erneut ganz gut zu der genannten Wiederbesiedlungsphase ab etwa 600 passt. Bei den Orten auf -en (Alvesen, Heesen, Hilgermissen, Magelsen) wissen wir nicht, ob ursprünglich ein -husen oder ein -heem hinten dranhing, und da -heem als -heim auch in Süddeutschland vorkommt und damit in die Völkerwanderungszeit zurückreicht (ebenso wie das -ingen von Mehringen), könnten die Orte auch etwas älter sein als die vorgenannten, was aber nicht so recht zu den Pollendiagrammen passt, die für diesen Zeitraum ja nur eine eher geringe Besiedlung anzeigen. Wechold ist sicher der älteste der hiesigen Orte, was man schon an den Schwierigkeiten bemerkt, den Namen zu deuten. Genaueres kann man nicht sagen, aber nehmen wir mal an, dass seine Wurzeln auf jeden Fall in die Völkerwanderungszeit oder sogar in die römische Kaiserzeit zurückreichen. Recht alt dürften von Namensform und Lage her auch der Wührden und Hingste sein, aber die anderen kleineren Siedlungen wie Ober-/Niederboyen und Obernhude sind wohl eher jüngeren Datums und wurden vielleicht im Rahmen des Landesausbaus unter den Frankenherrschern oder sogar noch später unter den Saliern gegründet. Dies dürfte auch für Schierholz gelten, das sicher anfangs die Bezeichnung eines bestimmten Waldstücks war, das während dieses Landesausbaus gerodet wurde. Ähnliche Überlegungen gelten für Fredelake, wo die Bezeichnung auf einen früher dort vorhandenen kleinen See hinweist.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Mehrzahl der hiesigen Orte wohl zwischen der angelsächsischen Auswanderung um 450 und der ersten urkundlichen Erwähnung im Mittelalter gegründet worden ist, höchstwahrscheinlich zwischen 600 und 800.