- Bernd
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Wir schreiben das Jahr 1213. Über die Bohlenwege und Trittpfade, aus denen das damalige Straßennetz besteht, bewegt sich auf dem linken Weserufer mühselig ein Trupp von Stedingern auf Hoya zu, um die dortige Grafenburg dem Erdboden gleichzumachen. Aber der Herr auf der „Hoyen“, von der Nachwelt „Heinrich der Erste“ genannt, ist offenbar vorgewarnt und schickt den wütenden, mit Dreschflegeln und einfachen Schwertern bewaffneter Bauernkriegern seine berittenen Burgmannen entgegen. Nördlich von Hoya, bei dem kleinen Dorf Hilgermissen im Kirchspiel Wechold treffen die Parteien aufeinander...
Und wer waren jetzt gleich die Stedinger? Kurz gesagt: Leute, die sich nicht alles gefallen ließen. Im 12. Jahrhundert hatten Herzog Heinrich der Löwe und die Erzbischöfe von Bremen in größerem Umfang Marsch- und Bruchland im Umkreis der Stadt durch Kolonisten entwässern und urbar machen lassen, darunter das Hollerland (eigentlich „Holländerland“, denn viele der Neusiedler stammten dorther), die Gegend um Brinkum und Stuhr und das neu eingedeichte Land an der Unterweser von der Mündung der Ochtum bis nördlich der Huntemündung. Letztere Gegend wurde dann als Stedingen („Land der Leute am Gestade“) bekannt, und da den Kolonisten persönliche Freiheit und niedrige Steuern garantiert worden waren, wurde das fette Marschland bald von den großen Höfen wohlhabender Bauern dominiert, die eine eigenständige, wehrhafte Bauernrepublik bildeten, die „Universitas Stedingorum“.
In einer Zeit, da die meisten deutschen Bauern halbe Sklaven waren, der Willkür des jeweiligen Grundherren ausgesetzt und unter einer enormen Steuerlast ächzend, war ein solches Gemeinwesen geradezu unerhört. Freie Leute, aber nicht von adligem Geblüt? Keine Ritter, und wussten doch ein Schwert zu führen? Konnten kein Latein, und verwalteten sich dennoch selbst? Da musste doch was geschehen... Und es geschah allerhand: Anfang des 13. Jahrhunderts schaute man von den sandigen Höhen der Oldenburger und der Stader Geest in die fruchtbare Marsch herab und ersann allerlei Pläne, um an die Reichtümer der Stedinger zu kommen und das gottlose Pack wieder in die Hörigkeit zu zwingen. Als Erstes versuchte es der Oldenburger Graf Moritz I., aber die Stedinger schleiften seine Burgen und vertrieben seine Vögte. 1207 folgte dann der Bremer Erzbischof Hartwig II., der die Versprechen seiner Vorgänger in den Wind schlug und mit einem Heer in Stedingen auftauchte, um Abgaben und Zins zu fordern.
Hartwig erhielt zunächst sein Geld, starb aber kurz darauf und konnte sein Projekt der Unterwerfung Stedingens nicht mehr fortsetzen. Die Stedinger nutzten diese Atempause und bauten Landwehren, die sie aber zunächst nicht benötigten. Dies hatte, vereinfacht gesagt, politische Gründe, denn bis 1219 kämpften nun drei Kandidaten um den Bremer Erzbischofsthron, deren Streitigkeiten die schlauen Bauern von der Unterweser geschickt nutzten, um durch wechselnde Bündnisse den Einfluss von Adel und Kirche hinter ihren Deichen so gering wie möglich zu halten. In diesen Zusammenhang gehört auch die Schlacht von Hilgermissen.
Die Lage war seinerzeit nicht gerade übersichtlich: 1213 unterstützten die Stedinger gerade Waldemar von Schleswig, der seit 1209 Bremer Erzbischof war, gegen die Ansprüche Gerhards von Oldenburg, der bereits Bischof von Osnabrück war und mit Unterstützung des mit ihm verwandten Grafen von Oldenburg den Dänen-Schützling Waldemar vom Bremer Erzbischofsthron verjagen wollte. Waldemar hatte seinerzeit Stade erobert (der Erzbischof war im Elbe-Weser-Dreieck auch Landesherr), Gerhard hielt den erzbischöflichen Sitz in Bremen. Die Stedinger mühten sich nach Kräften, die Position Gerhards im Bremer Umland zu schwächen und hatten bereits einige Festungsanlagen seiner Parteigänger zerstört, zuletzt die im heutigen Bremer Stadtteil Schwachhausen gelegene Rhiensburg. Nach diesem erfolgreichen Coup beschlossen sie wohl, auch den Grafen von Hoya in die Schranken zu weisen, der ein Neffe Gerhards war und diesen unterstützte.
Wenn man einer um die Mitte des 14. Jahrhunderts im Bücker Stift entstandenen Chronik glauben will, war der Stammvater der Hoyaer Grafen ein von den Rüstringer Friesen vertriebener Adeliger unbekannten Namens, der sich einen Klosterschatz unter den Nagel gerissen hatte und um 1200 mit prall gefüllten Geldkoffern an der Mittelweser auftauchte, um sich dort mit Unterstützung Hartwigs II. (siehe oben) eine Grafenherrschaft zusammenzukaufen. Sein Sohn, eben der genannte Heinrich I., hatte erst 1206 die benachbarte Burg Hodenberg eingenommen und zerstört und damit diese Herrschaft gefestigt. Die Stedinger sind also vielleicht nicht nur auf Hoya marschiert, weil Heinrich ein Parteigänger des Gegenbischofs war, sondern auch, weil er der Sohn jenes namenlosen Friesen war, der versucht hatte, ihre nördlichen Nachbarn in Rüstringen zu unterjochen.
Wie dem auch sei – die Sache ging schief. Wo genau bei Hilgermissen die beiden Kriegsparteien aufeinander trafen, können wir heute nur raten. Laut Bücker Chronik (siehe unten) sollen viele Stedinger bei der Schlacht auf der Flucht ertrunken sein, also kommt am ehesten noch die Gegend südlich vom Ort und um den Kolk herum in Frage, der seinerzeit noch ein richtiger Weserarm gewesen sein wird, aber mehr als Spekulation erlaubt die Faktenlage nicht. Als Sieger verließ jedenfalls Heinrich den Platz. Er nahm etliche überlebende Stedinger als Kriegsgefangene und kassierte hohe Lösegelder für ihre Freilassung, die er umgehend in die Befestigung seiner Burgmauern mit Steinen investierte. Hier die entsprechende Stelle der Bücker Chronik im Original-Mittelalterniederdeutsch:
Wyl gy nu horen, wo de Hoye gebouwet wart van stenen? Do sick de Stedinger to sath haden, do togen se van Reynemberge; dar lycht noch ein welle. Alle de wile besammelte sick de greve van der Hoye und toch den Stedinger nit entgegen, er se vor de Hoye gekomen weren; do toch he öne na. Da begunden de Stedingen ersten to ylende van der stede und darna to vlende. Do leth de greve toslahn und slog örer uter maten vele, ock so drenckeden sick de Stedinger vele in den water; noch so dreff he örer so vele upp, als he örer laten könde. Mit deme gelde, datt he den vangen af schattede, dar buwede he mede twe stene moshufze uppe de Hoye, den torne, de muren und allent dat dar uppe is van stenen.
Die Sache der Bauernrepublik ging dann später ganz verloren. Gerhard entschied die Auseinandersetzungen um den Erzbischofsthron 1219 für sich, und damit konnten die Stedinger nicht mehr zwischen den Parteien lavieren, um ihre Freiheit zu bewahren. Noch zehn Jahre gingen ins Land, bevor der Erzbischof sich stark genug fühlte, den streitbaren Bauern mit Waffengewalt entgegenzutreten, aber dann ging es Schlag auf Schlag, und die eigentlichen „Stedingerkriege“ begannen. Einen ersten Vorstoß der Bremer konnte man 1229 abwehren, aber daraufhin kam es zu einem der bizarrsten Vorgänge der Geschichte des deutschen Mittelalters: Die Stedinger wurden bei der römischen Kurie als Ketzer angeschwärzt, und Papst Gregor entblödete sich tatsächlich nicht, zum Kreuzzug gegen „jene Ketzer, so Stedinger heißen und das Volk der Gläubigen in Bremischen Landen, wilden Tieren gleich, zerreißen und vernichten“ aufzurufen. Und der Kaiser setzte gleich noch eine Reichsacht obendrauf...
Das war natürlich ungemein praktisch für alle, die keine Lust hatten, sich auf den langen Weg nach Palästina zu machen. Voller Ablass bereits an der Unterweser erhältlich! Außer dem üblichen Maß an Volksaberglauben bestand wohl die einzige wirkliche Ketzerei der Stedinger in ihrer Weigerung, sich der Obrigkeit zu unterwerfen, aber den Rittern aus ganz Norddeutschland, Holland und Flandern, die sich 1233 und 1234 nach Bremen begaben, war das sicher herzlich egal. Die Stedinger hatten keine Chance, schafften es zwar zunächst, den ersten Angriff der Kreuzritter abzuwehren und 200 von ihnen eine besondere Art von Ablass zu gewähren, aber im Frühjahr 1234 war es dann endgültig vorbei. In der „Schlacht von Altenesch“ fielen die Panzerreiter des Herzogs von Brabant und des Grafen von Holland über die tapferen Bauern her und machten kurzen Prozess mit ihnen.
Danach kam Stedingen unter die Kontrolle der Oldenburger, die hier bis zum 2. Weltkrieg die Herrschaft behielten. An die Freiheitskämpfe der Stedinger (wie an die vieler anderer norddeutscher Bauernrepubliken) erinnert der Wahlspruch „Lewer dod as sklav“.
Mehr über die Stedinger gibt’s übrigens auf der Seite von Ulf Neundorfer.